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Dzogchen im Westen

Jes Bertelsen und das Vækstcenter

Karl Antz*

dies auf einer der Hauptsprachen darzustellen – in diesem Fall Deutsch – ist vielleicht deshalb wichtig, weil es andere Gruppen von Leuten, die mit anderen Lehrern, aber demselben Grundprojekt arbeiten, inspirieren könnte: Wie können wir auf authentische Weise Dzogchen in den Westen überführen und neu formulieren, und wie können wir vorbereitende Übungen, ein Ngöndro, entwickeln, indem wir einige der Elemente übernehmen, aber auch einige der Dinge anzuwenden versuchen, die man im Westen entwickelt hat – Tiefenpsychologie, Philosophie und dergleichen mehr? Das ist unser kultureller Hintergrund, und für jemanden aus dem Westen muss Dzogchen in diesen Zusammenhang gesetzt werden …

darum glaube ich, dass manche unserer Erfahrungen hilfreich sind, wenn Leute in ähnlichen Zusammenhängen stehen – sie können vielleicht Ideen übernehmen: OK – die haben das so gemacht, und dieser Lama, der authentisch ist [Tulku Urgyen Rinpoche] hat bestätigt, dass das benutzt werden kann; also können wir vielleicht versuchen, ob das funktioniert. Man kann ein Beispiel dafür erhalten, wie man es machen kann. Es verhilft anderen vielleicht zu mehr Inspiration und weiteren Ideen dafür, wie sie es selber machen können.

Der dänische Meditationslehrer Jes Bertelsen, geboren 1946, Dr. Phil. am Institut für Ideengeschichte der Universität Aarhus, begann seine Laufbahn als Dozent an diesem Institut, wo er 1970 bis 1982 lehrte. 1978 begann Jes Bertelsen einen langjährigen Unterrichts- und Übungsverlauf bei dem irischen, in Dänemark wohnenden Heiler Bob Moore (gest. 2008) bezüglich des menschlichen energetischen Systems; ungefähr zur gleichen Zeit begann er, Privatkurse in Tiefenpsychologie, Traumverständnis und Meditation abzuhalten.

1982 begründete er gemeinsam mit Hanne Kizach das Vækstcenter (Wachstumszentrum) in Nørre Snede, Jütland, wo er seither Unterricht in Meditation abhält.

1989 begegnete er auf einer Ferienreise im Himalaya dem tibetischen Lehrer Tulku Urgyen Rinpoche (1920-1996). Diese Begegnung war von entscheidender Bedeutung. In langjährigem Unterricht und persönlicher Supervision durch Tulku Urgyen arbeitete Jes Bertelsen intensiv mit dem Thema Dzogchen; in diesem Unterrichtsverlauf gab Tulku Urgyen ihm die Bevollmächtigung, in Dzogchen, hierunter Trekchö und Tögal, zu unterrichten.

Seit 1990 konzentrierte sich Jes Bertelsens Unterricht mehr und mehr auf kürzere oder längere Retreat-Aufenthalte; seit 1993 findet dieser Unterricht überwiegend am Retreatort des Vækstcenters am Limfjord in Nordjütland statt.

Jes Bertelsen strebt in seinen Büchern und in seinem Unterricht danach, Dzogchen in der von Tulku Urgyen erlernten Form in einen westlichen Kulturzusammenhang zu integrieren, der – mit vollem Respekt für die tibetische Dzogchen-Tradition – auch die westlichen kulturellen Bedingungen zu nutzen versucht: Demokratie, geschlechtliche Gleichberechtigung, wissenschaftliche Sorgfalt und Nüchternheit in der Untersuchung des Bewusstseinsphänomens unter Einbeziehung westlicher Philosophie und Tiefenpsychologie.

Wird Jes Bertelsen einem deutschsprachigen Publikum vorgestellt, geht es nicht darum, sozusagen eine neue Dzogchen-Schule zu etablieren. Dzogchen wird heutzutage vielerorts im Westen introduziert; und die Bücher Jes Bertelsens können vielleicht andere Gruppen inspirieren, die mit demselben Grundprojekt arbeiten, indem sie zeigen, wie das mit einem Ausgangspunkt im westlichen kulturellen Hintergrund und mit der Bevollmächtigung durch einen authentischen tibetischen Lehrer in einem bestimmten Zentrum durchgeführt wurde.

Fundamental verhält es sich hier wie in vielen anderen Zusammenhängen: Man kann Inspirationen vermitteln – der Weg aber muss auf der Grundlage der Voraussetzungen im jeweiligen Zusammenhang gegangen werden.

Kindheit und Universität

Jes Bertelsens Werke und sein Unterricht lassen sich vielleicht mit Hilfe von zwei Polaritäten kennzeichnen. Die eine Polarität wäre das Verhältnis zwischen dem intuitiven, meditativen Zugang zum Leben – betrachten, ohne zu werten, das Betrachtete zu gleicher Zeit wie den Betrachtenden sehen – auf der einen Seite; und auf der anderen Seite ein untersuchender, analysierender Zugang – Zusammenhänge, Gegensätze und Systeme entdecken und so eine analytische Erkenntnis der objektiven Welt erlangen. Die andere Polarität wäre das Verhältnis zwischen der westlichen, aufteilenden, wissenschaftlichen, philosophisch-systematisch geprägten Untersuchung dieser objektiven Welt und der östlichen, Ganzheits-betonten, intuitiven und von Meditation geprägten Betrachtung aller Eindrücke, die dem Wissen von einer ultimativen Wirklichkeit jenseits des scheinbar Objektiven entstammt.

Diese von Polarität geprägte Lebensauffassung zeigte sich schon in seiner Kindheit:

„Als ich zweieinhalb Jahre alt war, lag ich drei Tage im Koma, und die Ärzte meinten, nun sei es zu spät […] Und diese Situation war der Impuls für eine Aktivität. Ich begann schlicht zu meditieren; sozusagen über selbsterfundene Mantras, die – wie sich zeigte – etwas tibetisch klangen. Und dann gab es eine Vertiefung, ein Nach-innen-Gehen; ich saß still in der Diamantstellung und sang diese Silben vor mich hin. Damit fing ich schon kurz nach meiner Genesung an; und daran hielt ich fest. Ich hatte das Gefühl, ich sei unter diesem Todesprozess mit irgendetwas in Berührung gekommen; es gab Gefühle von Trennung und Angst – es gab aber auch etwas, das konstruktiv war. Und das war so wertvoll, dass ich irgendwie die Verbindung damit halten wollte. Das führte dazu, dass ich mit dieser meditativen Aktivität begann. Und das tat ich auch weiterhin und verfeinerte es täglich ungefähr eine Stunde, bis ich etwa 14 Jahre alt war.

Als ich allmählich wacher wurde, etwa im Alter von fünf bis sechs Jahren, fing ich an zu untersuchen, was das eigentlich war. Und nun bemerkte ich: hatte ich zum Beispiel etwas bekommen, das ich mir wünschte – ein Spielzeugauto oder so etwas –, so setzte ich es zunächst einmal ab, statt damit zu spielen; und ich untersuchte: wo kommt diese erwartungsvolle Freude über ein Geschenk eigentlich her? Und so vertiefte ich mich: zunächst einmal nach innen durch die selbsterfundenen Mantras, dann die Stille und dann das Gefühl, sich irgendwie auf das Geschenk zu freuen, und die Untersuchung, woher diese Freude kam … Dieser Prozess hat vermutlich das Ganze angestoßen..

Als ich älter wurde, kam das Gefühl, dass die gewöhnliche Wirklichkeit, die man sah, irgendwie nicht das Eigentliche war. Es gab ein sehr deutliches Gefühl – schon im Alter von fünf bis sechs Jahren –, dass das, was man so zu wissen bekam, dass die Wirklichkeit, die man sah, und die Beziehungen, die es zwischen Menschen gab, nicht alles war; es gab tiefere Schichten. Und das eigentliche Sinngefühl entstammte diesen tieferen Schichten. Es war wichtig, dorthin zu kommen. Und [diese meditativen Übungen] waren ein Werkzeug, um hier einzudringen. Das war die nächste Stufe des Prozesses. Hier kam also das Gefühl, dass die Wirklichkeit, wie sie dargestellt wurde und wie sie sich im Sinnesfeld und im interrelationalen Feld ausnahm, nicht das Eigentliche war; es gab einen eigentlicheren Zugang. Und das fügte sich nun in den eher spontanen Selbstheilungsprozess ein, der nach der Krankheit eintrat und auf den sich vielleicht der erste Begriff von Praxis gründete.

Einige Jahre später entstand die Betrachtung: Was geschieht eigentlich, wenn ich einschlafe? Und da entdeckte ich plötzlich, dass dies einer der Wege war, auf denen man sich nach innen bewegen konnte. Es war, als ob der Prozess der Vertiefung, der eintrat, wenn ich auf die beschriebene Weise praktizierte, in mancher Hinsicht an das Einschlafen erinnerte – nur dass ich hier nie einschlief. Und nun dachte ich, ich müsse doch auch in die andere Richtung gehen können. Hier war nun allerdings schon etwas eher diskursives oder analytisches Bewusstsein hinzugekommen; also war das wohl im Alter von vierzehn Jahren.

Persönlich gesehen waren es wohl diese drei Dinge, die den Prozess anstießen: der Versuch, etwas Wertvolles wiederzufinden, das es in diesem Todeserlebnis oder Erlebnis der Todesnähe gegeben hatte; dann der Teil, der mit der Wirklichkeitsauffassung zu tun hatte, also das Gefühl, dass dies hier nicht das Eigentliche sei – ich hatte das deutliche Gefühl, dass in der Art, wie die Wirklichkeit beschrieben wurde und wie über sie geredet wurde, etwas war, das ungesagt blieb, dass es eine Eigentlichkeit gab, eine andere Betrachtungsweise, die, wenn ich Eltern und Freunde danach fragte, mir von keinem beschrieben werden konnte – sie konnten nichts damit verbinden; und schließlich kam die Untersuchung, was geschieht, wenn man einschläft. Es gab diese drei Elemente.“

Im Verlauf der nächsten Jahre verfolgte Jes Bertelsen die letztere, gewissermaßen analytisch-wissenschaftliche Spur. Nach dem Gymnasialabschluss studierte er am Institut für Ideengeschichte der Universität Aarhus. Dieses Institut wurde von dem dänischen Theologen und Philosophen Johannes Sløk (1916-2001) gegründet und geleitet.

„[Ideengeschichte] ist gewissermaßen ein fachübergreifendes Studium, das sich auf die Ideengrundlage innerhalb der verschiedenen Disziplinen stützt, so dass man sich in vielen verschiedenen Bereichen spezialisieren kann – die psychologischen Ideen, die philosophischen, die natürlich zu den fundamentalsten gehören, die künstlerischen, die religiösen und so weiter; wobei das Leitmotiv die fachübergreifende Untersuchung von Zusammenhang und Struktur dieser Ideen ist; dies alles jederzeit in Bezug auf die fundamentalen Bewegungen einer Epoche zu sehen.

Man hatte recht freie Hand bei der Strukturierung dieses Studiums. Ich sagte Sløk, wofür ich mich interessierte, und er stellte mir frei, es zu studieren. Sløk stellte bestimmte Forderungen: Man musste Lateinisch und Griechisch können, und man musste bestimmte Philosophen und Autoren lesen; im Übrigen war man frei. Im Gegenzug durfte ich ohne Einmischung planen, was ich wie und auf welche Weise studieren wollte, von welchem Thema meine Staatsexamensaufgabe handeln sollte und dergleichen mehr. Und hier kamen dann Jung, Freud und Reich und später Kierkegaard und die Existenzphilosophie.“

1970 erhielt Jes Bertelsen die Goldmedaille der Universität Aarhus für die Abhandlung Kategori og afgørelse (Kategorie und Entscheidung).

„Sie ist – auf der Basis von Kierkegaards Papirer (Papieren) und Werken – eine Darlegung, was er eigentlich bei Aristoteles und Trendelenburg [dem Verfasser der Elementa Logices Aristotelicae, einer Sammlung von Passagen aus Aristoteles' Organon] gefunden hatte, wie er es umformulierte und inwieweit er sich hierdurch von der Grundkategorienlehre Hegels, Fichtes und vielleicht auch Kants unterschied. Das war die eigentliche These. Ich versuchte dies geschichtlich nachzuweisen und Kierkegaards Kategorienlehre zu enthüllen, was er selber nie direkt tut; man sieht aber deutlich, dass hinter Kierkegaards Werken eine gründlich durchdachte Kategorienlehre steht.

Seit meiner Gymnasialzeit hatte ich mich mit Kierkegaard und Jung beschäftigt; und ich wollte versuchen, den Zusammenhang zwischen Kierkegaards Existenzanalyse und Jungs Tiefenpsychologie nachzuweisen. Also arbeitete ich mehrere Jahre daran, mich in Kierkegaards Philosophie einzuleben; meine Doktorarbeit [Ouroboros – en undersøgelse af selvets strukturer (Ouroboros – eine Untersuchung der Strukturen des Selbst), 1974] untersucht den Zusammenhang zwischen Kierkegaard und Jung. Auch diese Untersuchung richtet sich an der klassischen Kategorienlehre aus und öffnet sich für die Mystik; später bezog ich den mystischen Bereich mit ein.“

Nach erlangtem Doktorgrad reiste Jes Bertelsen zu einem Studienaufenthalt an das Jung-Institut in Zürich.

„Mir schien, die Jung'sche Tiefenpsychologie gehöre wohl zum Brauchbarsten, Offensten und Interessantesten in der westlichen Tradition. Nachdem ich meine Doktorarbeit geschrieben hatte, finanzierten mir wissenschaftliche Stiftungen in Dänemark eine Studienreise, und ich hielt mich anderthalb Jahre am Jung-Institut auf. Dort erhielt ich eine Lehranalyse, die ich aber nicht abschloss; das Ganze kam mir doch sehr dogmatisch vor.“

„Ich wollte feststellen, was geschah, wenn man das, was Jung geschrieben hatte, auch konkret praktizierte, statt es nur zu lesen – und wenn man es mit Kierkegaard und Kant verglich; was geschah wohl, wenn man unmittelbar hineinging?

Gleichzeitig wollte ich die Untersuchung der Meditationsform wieder aufnehmen, die ich im Alter von zweieinhalb bis vierzehn Jahren praktiziert hatte. Ich begann selber Experimente vorzunehmen; ich versuchte das zu entdecken, was zur Vorstellung des bipolaren Bewusstseins wurde: Woher kommen die Gedanken – wie konnte man anfangen, unmittelbar festzustellen, was Apperzeption ist und woher die Gedanken kommen?

Zwei Fragestellungen wurden sozusagen das Koan, das ich amateurhaft benutzte. Die eine war, jedesmal, wenn ein Gedanke kommt, sich von diesem Gedanken wegzubewegen zur Frage »Woher kommt dieser Gedanke?«; an den Punkt zu gelangen, vor dem er seine Form als Gedanke erhalten hat. Ein solcher Gedankenkeim oder Impuls im Bewusstsein existiert, ohne geformt zu sein; er entsteht als etwas, und die Formbildung wird zu einem Gefühl oder einem Gedanken. Es ging darum, mit dem Bewusstsein dorthin zu gelangen und die Aufmerksamkeit in den Keimbildungen zu lagern, in den Vorformen von Gedanken, Gefühlen und dergleichen.

Die andere Fragestellung war die Erforschung: Was ist Apperzeption? Wir wissen, was das technisch ist, und wir kennen Definitionen dieses Begriffs – viele Definitionen, Kants oder Kierkegaards oder die anderer; was aber ist Apperzeption konkret? – wie kann man die Apperzeption bewusst machen oder die Aufmerksamkeit auf sie festhalten? – und was bedeutet das? Und hier entdeckt man sehr bald, dass man das nicht kann, wenn man an der Sprache festhält; sobald die Sprache da ist, verschwindet die Apperzeption. Also ist Apperzeption ein die Sprache transzendierendes Phänomen; sie liegt in einer anderen Dimension.

Es gab also diese beiden Bestrebungen – die Suche nach dem Ursprung von Impulsen und Vorformen zu Gedanken, Gefühlen und Vorstellungen – und die Frage, was reine Apperzeption als ein »erfahrenes« Phänomen im Bewusstsein ist. »Erfahren« in Anführungszeichen – denn man entdeckt sehr schnell, dass sie gewissermaßen als Vorbedingung für Erfahrung besteht. Man kann nicht einmal formulieren: »Das hier ist eine Art Erfahrung«; sobald man das tut, hat man eine Dualität gesetzt, und damit hat man sie [die Apperzeption] vorausgesetzt. Und dieser gesamte Problemkreis – d.h. Kant und Kierkegård, nicht als theoretische Gedankenprozedur, sondern als praktische meditative Koan-hafte Untersuchung – war der Ursprung dieser Sache. Und nun folgte eine Reihe von Jahren mit diesen Meditationsformen, wo ich täglich ein paar Stunden saß, an der Praxis arbeitete und alles aufzuschreiben versuchte – das war der nächste Schritt.“

Bob Moore, das Vækstcenter und Höheres Bewusstsein

1970 bis 1982 unterrichtete Jes Bertelsen am Institut für Ideengeschichte der Universität Aarhus. Diese Universitätsperiode wurde mit einer Vorlesungsreihe über Tiefenpsychologie abgeschlossen, die später als Tiefenpsychologie 1-4 publiziert wurde.

Schon vorher, 1978, war er dem irischen Heiler Bob Moore begegnet; die Verbindung mit ihm bestand bis zu seinem Tod 2008.

„Mir waren von selbst gewisse Wahrnehmungen entstanden, mit denen ich nichts Rechtes verbinden konnte. Ich verstand nicht, was das war. Diese Erfahrungen glichen – in der Sprache C.G. Jungs – archetypischen Bildern und Symbolen.

Ich arbeitete ziemlich viel mit Menschen. Schon immer hatten mich Menschen aufgesucht; und ich bemühte mich, ihnen nach bestem Wissen und Gewissen Rückmeldungen in irgendeiner Form zu geben – teils bezüglich ihrer Träume, teils was die Selbstentwicklung angeht. Als ich [vom Studienaufenthalt am Jung-Institut] zurückkam, hatte ich eine Grundlage, um – aus meinem eigenen Wissen über die Funktionsweise des Meditativen heraus, so amateurhaft das auch sein mochte – systematischer mit Menschen arbeiten zu können Und zu diesem Zeitpunkt begannen allmählich die erwähnten Wahrnehmungen.

Als ich nun Bob begegnete, hatte ich das deutliche Gefühl, er wisse, worum es hier gehe. Und er konnte es regulieren – er kannte Übungen und Erklärungsmodelle, mit deren Hilfe ich in diesem Bereich weiter kommen konnte; er setzte das Ganze in eine Struktur, die ich als Ausgangspunkt benutzen konnte. Und das verstärkte an und für sich die Genauigkeit und Präzision in der Entwicklung meines eigenen meditativen Prozesses. Denn nun konnte ich einige der Phänomene, die mir erschienen, aussortieren, so dass die Konzentration auf das Wichtige reiner wurde: Wo kommen die Impulse im Sinn, im Bewusstsein, her – Gedanken, Gefühle und Vorstellungen; und ich konnte tiefer darin eindringen, ohne von den entstehenden Wahrnehmungen abgelenkt zu werden; und auch mit dem Aspekt der Apperzeption kam ich weiter, weil das gesamte – wie man es nennen könnte – clairvoyante Niveau davon befreit wurde. Und das führte zu größerer Präzision.

Ich glaube, was alle diese Dinge angeht – die Begegnung mit Bob, der Sachverhalt, dass ich seine Übungen durchführte und seine Erklärungen erhielt, wodurch diese beiden Felder getrennt wurden – all das führte dazu, dass 1981 eine gewisse Form der Öffnung eintrat.

Diese Öffnung war die stärkste spirituelle Öffnung, die ich bis dahin erlebt hatte. Und sie erforderte eine Art Synthese oder Beschreibung meines eigentlichen Standorts in dieser gesamten Frage der Meditation. Nach Traumarbeit und Meditation (1982, deutsch 1988) – bei diesem Buch handelte es sich sozusagen um ein Konzentrat des Verlaufs mit Bob – kam dann dieses Erlebnis – dieser Durchbruch oder wie man das nennen will; eine Art Illuminationsblitz.

Um dieses Erlebnis einzuordnen, versuchte ich alles zu sammeln: Welche Erfahrungen habe ich selbst mit Meditation gemacht und welche gemeinsam mit den Menschen, die ich damals unterrichtet hatte? Ich unterrichtete allmählich etwas experimenteller, und wir tauschten uns aus: »Macht es versuchsweise so oder so; was erlebt ihr, wenn ihr es so macht?« Auf diese Weise hatte ich viele Erfahrungen gesammelt; nicht nur meine eigenen, sondern auch die anderer; und daraus entstand dann 1983 Höheres Bewusstsein.

Damals hatte ich Longchenpas Kindly bent to ease us gelesen. Ich hatte das gesamte [dreibändige] Werk gelesen – besonders aber den zweiten Band über Meditation; und das war beeindruckend. Da fühlte ich: Hier spricht jemand, der etwas weiß! Aber Longchenpa war ja schon lange weg, und ich dachte: Ich kann ja nicht irgendwo hin reisen, um ihn zu treffen und Informationen zu bekommen, also …“

In Höheres Bewusstsein, dem ersten der sechs Bewusstseinsbücher in der Sammelausgabe Vom Wesen des Bewusstseins, beschreibt Jes Bertelsen auf recht detaillierte Weise Zustände, die jenseits des normalen Bewusstseins, jenseits der vierten Bewusstseinsebene*, liegen; und er schildert, wie man solche Zustände unmittelbar, aus der vierten Bewusstseinsebene heraus, auffasst. Doch spricht er in diesem Buch überwiegend von einer einzelnen, gesammelten Ebene des höheren Bewusstseins; er nuanciert diese Ebene nur in geringem Maß.

Schon in Höheres Bewusstsein gab es im damals vorliegenden Erfahrungsmaterial Vorformen einer Feinunterteilung. Man kann in diesem Buch sehen: wenn es sich ins Trans-sprachliche öffnet, erscheinen allmählich bestimmte Formen von Erfahrungen, das höhere Clairvoyante; dann folgt die Beschreibung einer Erfahrungsebene, die höher liegt und in aufscheinenden Blitzen Durchleuchtetheit ist – gewissermaßen ein Erlebnis der sechsten Ebene; und als – von mir damals nicht realisierter – Horizont findet sich schließlich ein Einheitserleben; übernommen von Longchenpa und Meister Eckhart; übernommen aus meiner Lektüre, die das als die höchste Ebene beschrieben hatte. Da meine eigenen Erfahrungen auf dieser Stufe aber nicht weiter reichten als bis zu dem, was wir die fünfte und sechste Bewusstseinsebene nennen wollen, beschrieb ich das damals nicht in seinen feineren Nuancen. Doch ist es tatsächlich als Vorformen vorhanden.

Es wurden keine Nuancen beschrieben – unter anderem weil meine eigenen Erfahrungen nur die fünfte und die sechste Ebene unterscheiden konnten; und die sechste Ebene nur in verhältnismäßig wenigen Situationen. Ich hatte keine Erfahrungen auf der siebten Ebene. Die siebte Ebene ist ja das Nonduale – der wirkliche Rigpa-Zustand. Und damit hatte ich damals keine Berührung. Das Einheitsbewusstsein lag also als theoretischer Rahmen, den ich meiner Lektüre der Mystiker entnommen hatte.

Ich war immer der Ansicht, dass es zwei Seiten der Religion gibt: etwas, das man kirchliche Religiosität nennen könnte, wo man sich zu Ritualen, Texten, Dogmen und Glaubenssystemen verhält – und eine Klosterspiritualität. Und hier – in der Mystik oder der Klosterspiritualität – sah ich zwei Ebenen: eine kulturbestimmte Ebene – etwa dass man sich zu Gott und dem Teufel verhält, dass man ein Mann sein muss, um einen Prozess der Erleuchtung zu durchschreiten; und dann einen allgemein-gültigen Teil. Und was mich interessierte, war schon von Anfang an der allgemein-gültige Teil. Ich war persönlich nicht besonders an der kirchlich religiösen Sache mit dem Glaubenssystem interessiert. Und auch die kulturbestimmte Seite der Mystik – die sich natürlich immer innerhalb der jeweiligen Kultur formuliert – hat mich nicht besonders interessiert.

Es gibt aber, wie ich es sehe, so etwas wie einen allgemeingültigen Kern in der Mystik. Und es ist dieser Kern, der mich immer schon interessierte. Dieser Kern gründet sich – so sehe ich es – so gut wie immer auf Erfahrung. Er baut immer auf andere Weisen als die historisch-kulturell bedingten auf – und völlig anders als die kirchliche Spiritualität. Der Bezugsrahmen hinter Höheres Bewusstsein, das Einheitsbewusstsein, setzt sich also aus einer Kombination meiner Lektüre östlicher – etwa Longchenpa – und westlicher Mystik zusammen, aber auch aus dem, was ich im Überblick zu Rumi und zur Hindu-Mystik gelesen hatte. Hier sah ich, dass dieses Bezugssystem rein intellektuell das höchste war – also ein nonduales Einheitsbewusstsein.“

Inzwischen hatte Jes Bertelsen die Universitätswelt verlassen und gemeinsam mit Hanne Kizach das Vækstcenter in Nørre Snede gegründet. Dieses »Wachstumszentrum« ist ein Unterrichtsort, wo unter anderem Kurse über Meditation abgehalten werden; gleichzeitig ist es sozusagen ein Laienkloster unter den Bedingungen unserer Zeit, wo der zentrale Kern der spirituelle Inhalt im Leben ist, eingesetzt in einen Rahmen, der unserer eigenen Zeit entspricht; einen Rahmen, innerhalb dessen die Bewohner mit der Umwelt und der Gesellschaft interagieren, wie das die meisten Menschen im heutigen Dänemark tun – mit persönlicher Ausgeglichenheit in den Bereichen Wirtschaft und Finanzen, Liebesleben, interpersonelle Beziehungen und Interaktion mit der sozialen Umwelt.

[Wir gründeten das Vækstcenter] teils um der Möglichkeit willen, einen Unterricht in diesen Bereichen zu intensivieren, der vollkommen frei formuliert werden konnte; einen Unterrichtsort und einen Ort für Menschen einzurichten, der sich völlig auf auf die von mir bis zu diesem Zeitpunkt erfahrenen Ideen und Visionen stützte; all dies genau nach diesen Visionen und Strukturen aufzubauen; und so allmählich teils einen Kursusbetrieb aufzubauen, teils eine Gemeinschaft mit einer Gruppe von Menschen zu sammeln, so dass man allmählich mit anderen Bewusstseinszuständen experimentieren konnte, mit anderen Arten, den gesamten meditativen Bereich, den Traumbereich und den Energiebereich so weit zu bringen, dass er sich in einer alternativen Lebensweise auskristallisierte – einer Lebensweise, die mit dem Alltag vereinbar war.“

Jes Bertelsens Unterricht wie auch seine Arbeit im Rahmen des Vækstcenters lässt sich am besten mit folgender Aussage charakterisieren:

„Es war nicht besonders interessant, Menschen zu überzeugen. Es war weit interessanter, all dies gemeinsam auszuprobieren; und mein eigenes Anliegen war der Versuch, es von jeder Dogmatik freizusetzen. Von Anfang an war das mein Hauptprogramm. Ich fand, dass es möglich sein müsse – und dass wir uns heute jedenfalls in der westlichen Welt in einer Situation finden, wo es eine Bereitheit gibt – versuchsweise einige dieser Werkzeuge auszuprobieren und zu entwickeln und sie mit anderen Werkzeugen des Lernens zu vergleichen – und sie freizusetzen. Das war für mich eine Herausforderung. Es interessierte mich.“

Tulku Urgyen und Dzogchen

1989 unternahm Jes Bertelsen eine Ferienreise nach Nepal, wo er einen dort arbeitenden Freund besuchte. Dieser machte ihn mit Tulku Urgyen Rinpoche bekannt. Und diese Begegnung war von entscheidender Bedeutung für Bertelsens Leben und Arbeit. Tulku Urgyen gab ihm die Instruktion der Einführung – eine Einführung in die wahre Natur des Bewusstseins.

[Diese Begegnung] … wird im sechsten Buch beschrieben. Interessanterweise beschrieb Tulku die Sache zunächst sprachlich, und Andreas Kretschmar übersetzte dann ins Englische. Das war sehr klar und anschaulich; er benutzte das Bild von der Sonne, ihren Strahlen und dem Raum, der Weite; es geht darum, dass die Sonnenstrahlen – also der Teil des Bewusstseins, der sich aus der Quelle nach außen bewegt – dauernd im Ausdruck befindlich sind, in Ausdrücken; das heißt Gedanken, Gefühlen, Bildern, Vorstellungen, Erfahrungen; und nun ging es darum, sich rückwärts durch die Sonnenstrahlen hineinzubewegen und die Verschmelzung mit der Sonne zu erreichen.

Und dieses Bild lag im Grunde sehr nahe an meiner eigenen Arbeitsweise; das wurde durch seine Formulierung schnell klar – schon hier benutzte er den Ausdruck »self-knowing awareness (von sich selbst wissendes Gewahrsein)«, Rang rig, als eine der Formulierungen für den Rigpa-Zustand. Und das andere war der ultimative Ursprung aller Bewusstseinsinhalte.

Die beiden Dinge, an denen entlang ich mich rückwärts bewegt hatte, bevor ich Höheres Bewusstsein schrieb, und die ich irgendwie amateurhaft selbst erfunden hatte – eben diese Dinge benutzt er also. Und nachdem er dann die theoretische Seite dieser Einführungsinstruktion besprochen hatte, redete er nicht mehr; nun benutzte er seine Hände. Und das war extrem kräftig. Plötzlich gab es keine Vermittlung durch den Dolmetscher mehr; er vermittelte mit Gesten, und er hielt den Kontakt mir mir, und dann zeigte er es schlicht, voll und ganz; die eigentliche Einführung erfolgte rein gestikulatorisch. Also gab es keine Worte, als er es »sagte«. Denn im Aufbau war ihm ja klar, dass ich jetzt – jetzt! – so gut da war wie ich sein konnte; und nun tat er es sprachlos in unmittelbarem Kontakt. Und das führte dazu, dass es so kräftig wurde; in diesem Augenblick verschwand auch der Dolmetscher.

Damals konnte ich ja kein Tibetisch; ich war also gewissermaßen völlig sprachlos mit ihm zusammen gestellt; und ich war sicher – so erlebte ich es innerlich –, dass ich genau an dem Ort war, auf den er verwies. Und dann zog er [kräftiges Ausatmen] sprachlos den letzten Schleier beiseite. Und dann kam es; dann brach es durch.

Das dauerte etwa eine halbe Stunde; später sagte er mir etwas dazu, wie ich jetzt arbeiten könne, wie ich seiner Meinung nach arbeiten solle. Und er gab mir genau die Praxis, die ich tatsächlich durchgeführt hatte – genau dieselbe Praxis, bis in Einzelheiten. Das war beeindruckend. […] Tulku Urgyens eigene Beurteilung war: »Dies ist die Wiedererkennung der Natur des Bewusstseins, es ist, im nondualen Zustand zu sein, im Rigpa, und es ist, in einer gewissen Dauer darin zu sein.«“

Diese Einführungssituation führte im Lauf der nächsten Jahre dazu, dass die weiteren fünf Bewusstseinsbücher geschrieben wurden – Befreiung des Bewusstseins, Der Himmel des Jetzt, Das Innerste des Bewusstseins, Dzogchenpraxis als Bewusstseinsweite und Das fließende Licht des Bewusstseins. Letztendlich befassen sich diese Bücher, wie inzwischen wohl deutlich wurde, alle mit Inhalten, die sich sprachlich eigentlich nicht beschreiben lassen. Das führt zu der Frage: Warum eigentlich diese Bücher schreiben?

„Das Bedürfnis, die Bücher zu schreiben, entstammt dem Wunsch, Menschen, die sich in ähnlichen Situationen befinden, Inspiration oder Möglichkeit zu vermitteln. An meinem eigenen Beispiel – und an den Menschen, die ich unterrichtet habe – habe ich gesehen, wie viel Inspiration daraus entsteht, Präzision darüber zu verschaffen, wo man sich im meditativen Prozess und im sprachlosen Teil der »Erfahrungen«, die man hat, befindet. Je größere Präzision man nach der Meditation schaffen kann, was das Begreifen und Verstehen angeht, desto mehr kann sich die Praxis vertiefen und sich im trans-sprachlichen Feld öffnen.

Dieses gesamte Unterfangen ist als Unterfangen vergeblich, denn – man kann es nicht beschreiben. Dennoch kann man etwas tun; man kann sehr viel darlegen, da die meditative Praxis der meisten Menschen in der sprachlichen Ebene in Richtung auf die nicht-sprachliche gelagert ist. Also kann man den Weg von der sprachlichen Dimension, also dem erlebnis- und erfahrungsmäßig geprägten Teil, hin zum Nicht-Sprachlichen so genau und nuanciert wie möglich beschreiben und so den Menschen Inspiration vermitteln, so dass sie es besser auffassen können.“

Die sechs Bewusstseinsbücher beschreiben letztendlich ein und dasselbe Thema auf immer wieder neue Weisen; es sind vorwärts gerichtete Aspekte des Weges; sozusagen ein spiralförmiges Vorwärtswandern –

„… ein Prozess, während dessen man sich um das Thema bewegt, und zwar wie in einer Spirale; jeweils in höherer Klanglage. Nach meinem eigenen Dafürhalten versuchen diese fünf Bücher an und für sich wichtige Aspekte des Eigentlichen zu vermitteln; also des nondualen Zustands selbst. Doch tun sie das von verschiedenen Ebenen aus; und zwei der Bücher, Der Himmel des Jetzt und Dzogchenpraxis als Bewusstseinsweite, benutzen eine eher poetische Sprache, während die anderen beiden Dzogchenbücher eher diskursiv sind.

Insgesamt ist es der Versuch einer Beschreibung … Finger, die, aus verschiedenen Aspekten, auf ein und dasselbe zeigen; und vielleicht, nicht aber notwendigerweise, gibt es eine Progression; man könnte auch sagen, dass sie alle voll gültig aufeinander verweisen …“

Es gibt einen weiteren roten Faden durch diese sechs Bewusstseinsbücher. Höheres Bewusstsein ist „persönlich“; hier ist es der Autor, Jes Bertelsen, der einen Weg zu finden versucht. Nach der Begegnung mit Tulku Urgyen geht es in den vier folgenden Büchern mehr um Jes Bertelsens Darstellung eines ziemlich klassischen Dzogchen-theoretischen Wegs, wie man ihn in anderer Literatur findet, in Kombination mit Jes Bertelsen eigenen Vorstellungen und Erfahrungen. Und das letzte Buch, Das fließende Licht des Bewusstseins, ist wiederum sehr persönlich und origineller in seiner Analyse und Darstellungsform, obwohl deutlich mit der Dzogchentradition verknüpft. Daher wirkt dieses Buch denn auch wie eine Art Abschluss.

Im Dzogchen und überhaupt im tibetischen Buddhismus spricht man von Ground, Path, Fruition – Grundlage, Pfad, Frucht. In dieser Perspektive wäre Höheres Bewusstsein der Ausgangspunkt, die Grundlage; hier ist das Ziel angedeutet, nicht aber entfaltet, wie das ja auch in der Frucht-orientierten Zugangsform der Fall ist. Durch die Begegnung mit Tulku Urgyen entsteht ein tieferes Verständnis der Sache im Verhältnis zum Dzogchen-System, wie es bereits besteht; dies ließe sich als der Pfad bezeichnen. Und schließlich folgt, was Jes Bertelsen selbst als eine Art Frucht seiner eigenen Verwirklichung erlebt – in hohem Maß seine persönliche Vermittlung dessen, worum es geht.

In den vier Bewusstseinsbüchern nach Höheres Bewusstsein wurde versucht, die eher klassische Dzogchen-Sprache und ihre Vorstellungen mit allem Möglichen zu integrieren – mit allgemeiner Mystik und Therapie, Gebet, neutraler Betrachtung, Mindfulness und dergleichen mehr, sozusagen eine Reihe der aktuellen Phänomene um Dzogchen herum zu platzieren; und damit beschreiben sie einen spiralförmigen Weg durch das Ganze; und das letzte Buch, Das fließende Licht des Bewusstseins, ist gewissermaßen eine Kulmination oder Reifung.“

(Mehr dazu im begleitenden Artikel Unterwegs im Bewusstsein)

Tradition, Erneuerung – und der tiefere Zusammenhang

Dzogchen ist die Kulmination einer tibetisch-buddhistischen Tradition mit tiefen Wurzeln im Begriff der Linie – von Lehrer zu Schüler – in der buddhistischen und tibetischen Kultur. Diese Wurzeln dürfen nicht gekappt werden – doch in der gesamten Geschichte des Buddhismus erneuerte sich die Tradition immer wieder, indem sie neue Formen annahm.

Der Dalai Lama hat gesagt, dass es die Kontinuität zum Beispiel im Dzogchen, in der Linie, ist, die das fließende Gold ist. Jeder einzelne Lehrer und jede Zeit erschafft konkrete Gestalten, die von der jeweiligen Zeit und ihrer Formsprache geprägt sind; doch entstammen sie dem fließenden Gold, das sich durch alle hindurchzieht. Das ist ein sehr schönes Bild. Man kann wohl verstehen, was er damit meint, wenn man betrachtet, wie ein Longchenpa es formen musste oder ein Jigme Lingpa; nun sind das die Großen – aber auch alle Kleinen, zu denen ich gehöre, mussten es auf ihre eigene, wenn auch weniger elegante und weniger tiefgründige Weise tun; doch gilt für die wirklich Großen, bei denen das deutlich zu sehen ist, dieselbe Gesetzmäßigkeit wie auch für die Kleineren.“

Die Unterrichtsform im Modell des Vækstcenter konzentriert sich mehr und mehr auf längere Retreats. Und es sieht so aus, das die Dinge nun ihre eigene Form finden. Jes Bertelsen hatte schon früh seine eigene Position definiert; in der letzten Zeit hat sich eine gewisse Klärung im Verhältnis zu eher tibetischen Erklärungsmodellen entwickelt.

„… All die Arbeit mit Longchenpa [in den letzten Jahren] hat doch sehr viel Raum eingenommen … ich finde, dass Longchenpas Darstellung des Dzogchen in den von mir untersuchten Texten* ungewöhnlich frei von kultureller und geschichtlicher Bindung, zugleich aber in vieler Hinsicht in der Dzogchen-Tradition verankert ist; und diese Spannung – dass es so offen und freigesetzt ist, wie man es sich nur vorstellen kann, und zugleich traditionelles Dzogchen – bot die Möglichkeit dafür, dass man auch auf der Anfängerebene, auf der ich arbeite, sozusagen unterscheiden kann, was das eher fließende Gold ist, das da kommt … Tulkus Bild war: es ist dieselbe Wasserleitung, auch wenn der eine Wasserhahn groß und der andere klein ist – das selbe Wasser fließt aus beiden.“

Diese Spannung zwischen Tradition und Erneuerung kann im Westen leicht zu einer von außen kommenden Problematisierung des ganzen Projekts führen, das leicht als New Age abgefertigt wird – ein Begriff, der in den letzten Jahren recht negativ geladen wurde. Die Frage ist, wo Jes Bertelsen in diesem Zusammenhang steht.

„Tulku Urgyen sagte einmal etwas, das mich beeindruckte: Was auch immer wir auf diesem Dharma-Zentrum [dem Vækstcenter] getan hätten, so sei es uns gelungen, ein echtes Ngöndro, vorbereitende Übungen zu Dzogchen, zu entwickeln, das auf westlichen Grundlagen aufbaue.

Wenn man absieht von dem, was er aufgrund seiner ziemlich umfassenden Bewusstseinsoffenheit wusste, wusste er ja nicht in Einzelheiten, was wir getan hatten – alle unsere Experimente, Fehler und Mängel; [diese Aussage aber] war seine Konklusion. Und das ist interessant. Es ist wichtig, eine solche Aussage zu haben. So muss er das betrachtet haben.

Dass dieser Ort [das Vækstcenter] nicht New Age ist, das liegt an verschiedenen Faktoren.

Wie ich die Sache sehe, ist New Age in hohem Maß ein Glaubenssystem. Sehr viel in New Age baut sich auf Glauben auf – wie auch in der kirchlichen Religiosität; man nimmt Bestandteile der Mystik, baut dann einige Vorstellungen auf und glaubt an diese. Und sehr, sehr wenige haben eigene Erfahrungen. New Age baut nicht vorrangig auf Erfahrungen auf, in deren Folge man nichts benutzt, was man nicht selbst erfahren hat; es baut im Gegenteil auf holistischen, sehr nuancierten Bewusstseinsmodellen und kosmischen Modellen auf, worin die einzelnen Menschen keine besondere Erfahrung haben.

Zum andern sind fast alle Lehrerstrukturen innerhalb von New Age selbstbestallt; wohingegen es in den traditionellen Schulen – wenn wir hier etwa Athos[-Klöster in Griechenland] wie auch den [tibe­tischen Buddhismus im] Himalaya nennen – keine selbstbestallten Lehrer gibt. Man versucht eine Art Qualitätssicherung der Unterweisung und der Praxis des Einzelnen zu erreichen, indem man durch Lehrer-Schüler-Überführungen Kontinuität sichert; Überführungen, in denen man den jeweiligen Schüler sehr genau untersucht und feststellt, auf welcher ethischen, praktischen und Verwirkli­chungs-Ebene er sich befindet; es muss ein doch sehr wohldefiniertes Niveau erreicht sein, bevor man die Bevollmächtigung zum Unterricht erhält. Das ist in New Age nicht der Fall.

Ich hätte es nicht gewagt, das Vækstcenter zu gründen, wenn ich nicht eine Bevollmächtigung von Bob Moore erhalten hätte. Nach der großen Öffnung 1981 sagte er mir, jetzt sei uns nicht mehr eine Lehrer-Schüler-Beziehung möglich, da er fühlte, dass ich jetzt ein Niveau erreicht habe, wo er mich nicht mehr unterrichten könne. Doch gab er mir in gewisser Weise eine Autorisation zur Gründung des Vækstcenters.

Nach der Begegnung mit Tulku Urgyen wurden neue Strukturen entwickelt, die sich nur aus seiner Bevollmächtigung herschreiben.

Nach dieser Begegnung fühle ich, dass das, was das Vækstcenter und die Übungsform hier auszeichnet, sich auf Erfahrungen gründet, dass es nicht auf ein Glaubenssystem aufbaut und dass es keine Selbstbestalltheit um die Lehrerstruktur gibt. Sie baut auf eine Tradition, und ich habe die Bevollmächtigungen und die Nachprüfung erhalten, die man haben muss. Und das halte ich für wesentlich.

Ein weiterer Aspekt trägt dazu bei, dass es nicht New Age gleicht. Ken Wilber hat eine Unterscheidung definiert, die ich für sehr bedeutungsvoll halte; eine Unterscheidung zwischen dem, was er den charismatischen Teil der Übertragung nennt – das, was in dem Augenblick eintritt, da zwei Menschen, ein Lehrer und ein Schüler, einander begegnen und dies in das Rigpa hinein durchdringt – und dem, was er den technischen Teil der Übertragung nennt: ein sich anschließender jahrelanger Prozess der Justierung und Supervision seitens des Lehrers im Verhältnis zum jeweiligen Schüler*. Und viel von dem, was meiner Meinung nach ebenfalls eher eine New Age-Prägung hat, liegt daran, dass man sich auf eine charismatische Begegnung gründet, nicht aber die technische Überführung von einem echten Lehrer erhalten hat.

Ich hatte das Glück, die (in dieser Sprache) charismatische Übertragung intensiv mit Tulku Urgyen zu erleben; und dann hatte ich das Glück, den gesamten Verlauf bis zu seinem Tod zu erleben, während dessen ich Kritik – und zwar sehr genaue Kritik – von Zuständen und Ego und davon, wo ich stand oder auch nicht stand und dergleichen mehr erhielt. Und das gehört zu einem Verständnis des Sachverhalts, dass die Lehrerfunktion nicht selbstbestallt, sondern authentisch ist. Was meiner Ansicht nach eine ordentliche Arbeitsweise in diesem Bereich ist.

Wir haben also zwei Aspekte, die wir in Bezug auf New Age gegenüber einer anderen Arbeitsweise verstehen müssen. In New Age gibt es entweder überhaupt nur Selbstbestalltheit; oder aber es gibt irgendeine Form von charismatischem Kontakt zwischen einem Lehrer und einem Schüler, nicht aber eine technische Ego-kommentierende und Ego-justierende Kritik (möglicherweise allerdings eine nachfolgende Selbstjustierungskorrektion und Anleitung), die anschließend Jahre dauert. Und es reicht meiner Ansicht nach immer noch nicht, dass es eine solche charismatische Überführung gibt. Man muss die charismatische Überführung haben, aber auch die Kritik von jemandem, der selbst im Rigpa ist – von einem authentischen Lehrer.“

Nun könnte es aussehen, als ob es hier nur darum ginge, das Bewusstsein zu erforschen; und inzwischen kann das Verständnis für die Ganzheit leicht verschwinden. Doch wird in den sechs Bewusstseinsbüchern immer wieder auf diese Ganzheit hingewiesen, diese Ausgeglichenheit, die auch das Mitgefühl beinhaltet.

„Untersucht man, was den verschiedenen spirituellen Traditionen gemeinsam ist, wird man nach meiner Auffassung einer wesentlich komplexeren Sammlung von Werkzeugen begegnen, die allein dadurch, dass sie gemeinsam wirken, wirksam sind.

Man muss mit dem Körper und mit der Atmung arbeiten. Und man muss mit dem Herzen arbeiten, also mit der Dimension des Mitgefühls. Man muss mit dem Bewusstsein arbeiten. Und man muss mit dem Kreativen arbeiten. Und wenn man nun nur einen einzelnen Teil isoliert, so kann man das ohne Weiteres tun – nichts kann jemanden daran hindern, das zu tun, und es wird zweifelsohne funktionieren. Arbeitet man mit den Einsichten, die man zur Kreativität oder Atmung hat, wird sich das in einer langen Reihe von Situationen anwenden lassen, wie es sich auch missbrauchen lassen wird. Benutzt man aber das gesamte Verständnis, nämlich den Sachverhalt, dass diese Werkzeuge in ihrer Ganzheit einen Zugangsweg zu tieferem Kontakt mit Herz und Bewusstsein bilden, dass sie sich für Erfahrungen öffnen – tut man das, so wird dieser Missbrauch wohl kaum stattfinden.

Wie ich die Sache sehe, ist der Kern oder die Essenz in der Spiritualität oder der Mystik eine Form des Kontakts mit einigen eher kollektiven Seiten der eigenen Persönlichkeit. Nicht etwa tiefer stehenden kollektiv unbewussten Seiten, sondern eher kollektiv bewussten und kollektiv gefühlsmäßigen Potenzialen. Und diese Dimension ist keine eindimensionale Sache. Wenn man sich also dieser Sache nur über einen Weg nähert – etwa nur durch den Körper oder das Herz oder das Bewusstsein –, so erfasst man nicht, was diese Sache ist. Denn es geht darum, die Mehrdimensionalität zu entdecken. Man kann sie nicht erreichen, wenn man nur eine einzige Dimension benutzt. Es ist wie mit einem Koordinatensystem: Will man einen Punkt auf einer Ebene definieren, benötigt man zwei Koordinaten, um diesen Punkt zu beschreiben. Will man einen Ort im Raum identifizieren, benötigt man drei Koordinaten. Wenn wir nun hypothetisch sagen, dass der eigentliche Inhalt in der Mystik oder im Spirituellen eine Multidimensionalität ist, so benötigt man viele verschiedene Wege. Man erreicht diesen Inhalt nämlich nicht, wenn man nur das Herz oder nur das Bewusstsein oder nur den Körper oder nur die Atmung oder nur das Kreative benutzt.

Was nun besonders das Mitgefühl betrifft: Ist es nicht auffällig, wenn man Longchenpa und besonders seine Verse liest – er sagt nichts darüber. Denke ich an alles, was ich von Tulku gehört habe, jedenfalls da, wo ich war und er direkt sprach – da wurde nie besonders intensiv über Mitgefühl gesprochen. Denn – es ist nicht notwendig.

Denn Dzogchen ist Mitgefühl und Bewusstsein in einem. – Man kann dieses Niveau nicht erreichen, ohne dass das Herz in Verbindung mit andern Menschen steht; das ist ja die praktische Seite der Erkenntnis, dass man nicht isoliert ist, dass man mit allen anderen Menschen zusammenhängt; und daher kommt die Fürsorge oder das Mitgefühl. Das wird aber nicht ausdrücklich angesprochen, denn es wird im Ngöndro, den vorbereitenden Übungen, ausführlich behandelt; dort wird es dauernd aufgezeigt, denn dort sind die Menschen vermutlich nicht im Kontakt mit dem natürlichen Mitgefühl; also übt man es. Sobald man aber den Durchbruch erreicht hat, tritt es spontan ein.“

Da Jes Bertelsen nur auf Dänisch und nur im Rahmen des Vækstcenters unterrichtet, ist es für Deutschsprachige schwierig, an seinem Unterricht teilzunehmen. Und doch erscheint es sinnvoll, seine Bewusstseinsbücher auf Deutsch herauszugeben:

„Vielerorts im Westen versucht man Dzogchen auf eine Weise um- oder wiederzuformulieren, die im Verhältnis zum westlichen Kulturzusammenhang angemessener ist. Wenn man nämlich viele der Ngöndro-Formen, der vorbereitenden Formen, überführt, stößt man mit vielen Vorstellungen im Westen zusammen, an denen das wider die eigene Wirklichkeit streitet; wo man denkt: Warum soll ich das tun, und was ist der Sinn der Sache?

Dies auf einer der Hauptsprachen darzustellen – in diesem Fall Deutsch – ist vielleicht deshalb wichtig, weil es andere Gruppen von Leuten, die mit anderen Lehrern , aber dem selben Grundprojekt arbeiten, inspirieren könnte: Wir können wir auf authentische Weise Dzogchen in den Westen überführen und neu formulieren, und wie können wir vorbereitende Übungen, ein Ngöndro, entwickeln, indem wir einige der Elemente übernehmen, aber auch einige der Dinge anzuwenden versuchen, die der Westen entwickelt hat – Tiefenpsychologie, Philosophie und dergleichen mehr? Das ist unser kultureller Hintergrund, und für jemanden aus dem Westen muss Dzogchen in diesen Zusammenhang gesetzt werden.

Es erscheint merkwürdig, dass man so tun soll, als ob es das nicht gibt, und dass man sich nur zu Yidam-Visualisierungen verhalten soll. Diese Frage muss man dem klassischen Buddhismus stellen. Man hat inzwischen ein überaus nuanciertes Verständnis der westlichen, ihrer selbst unsicheren Psyche entwickelt, die völlig anders als eine tibetische Psyche ist; die letztere ist in eine Clan-Gesellschaft eingebunden, was ein anderes Selbstgefühl gibt. Der Dalai Lama konnte – wie er vielfach ausgedrückt hat – nicht verstehen, dass innerhalb ihrer Umwelt gut funktionierende Westler hoch oben in den Hierarchien, Professoren, Praktizierende und so weiter, ihrer selbst derart grundlegend unsicher sind. Und ein Ngöndro, das für einen Clan-Menschen im Mittelalter entwickelt wurde, einen Menschen, der eine Sicherheit und eine Identität hat, die auf einem hierarchisch aufgebauten Clan-Verständnis aufbaut – wie kann man ein solches Ngöndro auf dermaßen ihrer selbst unsichere, materialistische Super-Egos wie wir das sind, überführen? Man kann so etwas nicht einfach kritiklos übernehmen.

Darum glaube ich, dass manche unserer Erfahrungen hilfreich sind, wenn Leute in ähnlichen Zusammenhängen stehen – sie können vielleicht ein paar Ideen übernehmen: OK – die haben das so gemacht, und dieser Lama, der authentisch ist [Tulku Urgyen Rinpoche], hat bestätigt, dass das benutzt werden kann; also können wir vielleicht versuchen, ob das funktioniert. Man kann ein Beispiel dafür erhalten, wie man es machen kann. Es verhilft anderen vielleicht zu mehr Inspiration und weiteren Ideen dafür, wie sie es selber machen können.

Wir haben all das – Ngöndro, vorbereitende Übungen und dergleichen mehr – auf der Grundlage der zu unserer Zeit fundamentalen westlichen Grundvorstellungen ausprobiert; einer Haltung zu Demokratie, zur Gleichberechtigung der Geschlechter, zur Wissenschaftlichkeit – dass man sich zur wissenschaftlichen Dimension darin verhalten muss.

Und dann muss man sich als Westler – und das sagen auch der Dalai Lama und viele andere – zur christlichen Kultur verhalten. Wir können nicht so tun, als wären wir in einer buddhistischen Gesellschaft aufgewachsen; man kappt die eigenen Wurzeln ab; das gesamte archetypische Niveau. Jung sagte es so: »anima naturaliter christiana«, was heißt: Die westeuropäische atheistische Seele ist tiefer im Archetypischen christlich. Auch das ist eine Einsicht, die wir nicht ohne Weiteres über Bord werfen können; dazu müssen wir uns verhalten. Und dies hier ist eine Art zu zeigen: So konnte man es bis zu einem gewissen Grad funktionieren zu lassen; benutzt es und tut das auf eure eigene Weise und schaut, ob ihr einige dieser Faktoren brauchen könnt.“



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Copyright OPUS Verlag 2010

*Dieser Artikel stützt sich auf drei Gespräche mit Jes Bertelsen: 1987 durch Karl Antz über Bertelsens Hintergrund und Ausbildung, Dezember 2008 durch Martijn van Beek über Bertelsen und die Mystik und Januar 2009 durch Karl Antz und Martijn van Beek über Bertelsens Bewusstseinsbücher. Ich schulde Martijn van Beek großen Dank für seine Hilfe.

*Im Osten wie auch im Westen unterscheidet man vielfach sieben Bewusstseinsebenen, unter denen die drei letzten das höhere Bewusstsein ausmachen.

*Es handelt sich vor allem um Chöying Dzö, Nelug Dzö, Rangdröl Korsum und Ngalso Korsum sowie einige Texte aus dem Nyingtig Yabzhi.

*zitiert in Risom, Jens-Erik: På sporet af elefanten (Auf der Spur des Elefanten), Kopenhagen: Borgen 2007, S. 144.